Für den offenen Dialog zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen

Menschen

Eine Zwischenbilanz

Von Oliver Taugerbeck

Vor kurzem wurde ich 30 Jahre alt. Ich habe das Gefühl, für mich ist die Jugend jetzt abgeschlossen. Jetzt gehöre ich ganz zur Welt der Erwachsenen.

Ich habe vor bei meinen Eltern auszuziehen. Bis jetzt habe ich mein eigenes Zimmer im Keller. Die Küche teile ich mit meinen Eltern. Auch wenn ich mal koche oder das Einkaufen übernehme, es ist doch etwas anderes. Ich könnte mir vorstellen in eine eigene Wohnung oder in eine WG mit der Hilfe vom ambulant betreuten Wohnen (ABW) zu ziehen.

Von der Betreuung des ABW erhoffe ich mir Unterstützung, wenn ich mal nicht mehr weiter weiß. So würde mir dieser Schritt deutlich leichter fallen. Auch bei Ämtersachen könnten sie mich unterstützen. Sicher müsste ich deutlich besser auf mein Geld achten. Aber ich hätte mehr Freiheit, weil ich mich nicht mehr mit meinen Eltern abstimmen müsste. Das gemeinsame Essen am Abend mit meinen Eltern würde ich vielleicht vermissen. Aber dafür kann ich mich mit anderen Menschen verabreden.

Für meine Arbeit wünsche ich mir noch immer, dass ich einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt finden kann. Dann hätte ich mehr Geld. Derzeit bin ich in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigt und mache gerade ein Praktikum auf einem Außenarbeitsplatz. Da bin ich zuständig für die Haustechnik. Es gefällt mir gut, weil ich viele praktische Dinge lerne. Das Gelernte kann mir auch privat helfen. Ich habe auch mehr Verantwortung und kann selbständiger arbeiten. In den nächsten Wochen muss ich mich entscheiden, ob ich längerfristig in diesem Bereich arbeiten will. Dafür spricht, dass ich da mehr Struktur im Tagesablauf habe, als in der Werkstatt. In Gesprächen mit dem Sozialdienst haben wir festgestellt, dass ich mich noch an einigen Punkten verbessern sollte, um auf dem 1. Arbeitsmarkt eine Chance zu haben.

Vor einigen Jahren hatte ich fast keine Freunde. Das hat sich durch die Arbeit in der Behindertenwerkstatt geändert. Dort habe ich Freunde gefunden, mit denen ich auch Unternehmungen machen kann. Wir gehen zusammen essen oder ich gehe auch mal mit jemandem auf ein Konzert oder ins Theater. Ich habe auch schon Urlaub mit Freunden gemacht. Ich habe auch Freunde ohne Handicap z.B. aus der Schulzeit, habe aber nur noch wenig Kontakt zu ihnen.
Heute unternehme ich viel mehr in meiner Freizeit, gehe auch zu Veranstaltungen wie Konzerte oder Theater. Früher habe ich oft jemanden aus der Familie gefragt, ob er oder sie mitginge. Jetzt mache ich es mit Freunden, was schöner ist.

Ich besuche auch Kurse am Bildungszentrum. Im Theaterkurs entwickeln wir einzelne Szenen mit unterschiedlichen Rollen. Das macht mir Spaß; so kann ich unterschiedliche Rollen ausprobieren, die ich im echten Leben nicht habe. Und ich arbeite beim Sprachrohr mit. Da erfahre ich manches aus der Behindertenarbeit und kann Informationen mitgestalten. Ansonsten telefoniere ich viel mit Freunden.

Letztes Jahr habe ich mich für den Behindertenrat aufstellen lassen und wurde auch gewählt. Hier arbeite ich in zwei Ausschüssen mit, „Arbeit und Soziales“ und „Bildung und Kultur“. Durch meine Arbeit habe ich viel Neues erfahren. Im Ausschuss „Arbeit und Soziales“ bringe ich mich mehr ein, weil ich diese Themen für besonders wichtig halte.

Seit drei Monaten singe ich auch in einem Chor mit. Das macht mir große Freude, da das gemeinsame Singen in der Gruppe mich stärkt. Die englischen Texte mancher Lieder finde ich allerdings noch etwas schwierig.

Jetzt habe ich den Mut, mich zu engagieren und neue Projekte anzugehen. Früher fehlte mir die Motivation Neues auszuprobieren. Damals hatte ich lange eine Arbeit in der freien Wirtschaft ohne Erfolg gesucht. Bevor ich in die WfbM kam, wusste ich nicht ganz, wo ich dazugehöre in der Gesellschaft. Heute stehe ich durch die Arbeit in einer WfbM und durch viele soziale Kontakte – auch in der Arbeit – deutlich besser da.

Heute mit 30 Jahren fallen manche Entscheidungen leichter als früher. Ich sehe für mich klarer, welche Arbeitsbereiche für mich in Frage kommen. Für die Zukunft hoffe ich, dass ich noch mehr Freunde finde. Und dass ich noch selbständiger werde. Das betrifft hauptsächlich meine Wohnsituation.

LEAVE A RESPONSE

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Cookie Consent mit Real Cookie Banner